Das Antikraftwerk

Letter 28

 

Konservierte Industrietypo in einem einmaligen Kraftwerksbau

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Das Antikraftwerk

»Eine Volksabstimmung über die Verwendung der Kernenergie ist ungeeignet.«
(Bruno Kreisky, Die Furche, 30. 1. 1978)

Wenn am 25. Dezember Millionen Haushalte gleichzeitig ihren Weihnachtsbraten in den Ofen schieben, entsteht eine Stromverbrauchsspitze, die Energieversoger auf die Probe stellt. Um solche Spitzen sicher abdecken zu können, beschließt Österreich 1969 den Bau des bundesweit ersten Atomkraftwerks.

Abgesehen vom EVN-Logo und von der Segmentanzeige links davon sind im und um den Bau auch die meisten typografischen Vorkommen originale Relikte aus den 1970er-Jahren. Eine erste Ahnung davon erhält man bei der Beschriftung des Portalkrans mit der Tragfähigkeit von 32 Tonnen.

Ein breit angelegter ziviler Widerstand stemmt sich nach Fertigstellung gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks, die Bevölkerung ist tief gespalten. Zu einem denkwürdigen Politikum wird die Angelegenheit, als der sozialistische Bundeskanzler Bruno Kreisky, der das Projekt Zwentendorf von der konservativen ÖVP-Vorgängerregierung geerbt hat und mit Vehemenz weiter betreibt, angesichts des Gegenwinds eine Volksabstimmung abhalten lässt und seinen Rücktritt vom Kanzleramt ankündigt, sollten die AKW-Gegner gewinnen.
Die ÖVP mobilisiert daher nun landauf, landab plötzlich gegen Zwentendorf in der Hoffnung, so den mächtigen, alleinregierenden Kreisky loszuwerden. Eine knappe Mehrheit von 50,47 % entscheidet beim Referendum am 5. November 1978 gegen die Inbetriebnahme – doch Kreisky bleibt.
Nun steht da ein betriebsfertig ausgestattetes AKW, das 40 Jahre lang vor dem Verfall bewahrt wird – eine liebevoll gepflegte Industrieruine, ein technologisches Mahnmahl.

Die hier abgebildeten Aufkleber und Plakate sind im Verwaltungsgebäude des Kraftwerks dokumentiert. Befürworter und Gegner bleiben einander nichts schuldig. Speziell bei diesem für Österreich sensiblen Thema wird am zeithistorischen Propagandamaterial ablesbar, wie politische Manipulationsversuche funktionieren. Der blümchenverzierte Sticker »JA kernkraft und kohle« etwa ist im Kontext der 1970er ein Greenwashing-Versuch, dessen Bildsprache vorsätzlich hinters Licht führen möchte.

Nach der Volksabstimmung wird das AKW einige Jahre lang hausmeisterlich verwaltet. Ein Mitarbeiter kümmert sich beispielsweise darum, die blanken Metallteile regelmäßig zu ölen, um sie vor Rost zu schützen. Die Stimmung im Kraftwerk und im Ort selbst ist zu dieser Zeit eher gedämpft.

Der Bau ist ein Unikum: das einzige voll ausgestattete Atomkraftwerk der Welt ohne Strahlenbelastung. So wird das Kraftwerk mit seinen über 1000 Räumen oft als Filmkulisse genutzt, seit 2005 buchen es internationale Kraftwerksbetreiber als Schulungsreaktor – neu hinzu kommen Trainings für den Abbau von Kernkraftwerken. Für Veranstaltungen stellt der Eigentümer EVN das Kraftwerk außerdem auch zur Verfügung.

An typografischen Preziosen finden sich hier herrliche Stencils (»Keine Slash-Schablone da? Nehmen wir ein großes I …«, schöne Gravuren und Uhren an den Schaltpulten sowie historische Logos, etwa jenes des Stahlbauers Waagner-Biro. Zwischendurch gibt es handgemalte Tafeln, die aussehen, als wären sie auf dem Zeichenbrett eines Bauingenieurs entstanden.

Seit 2009 sind auf dem Dach und auf dem 24 Hektar großen Kraftwerksareal Photovoltaikanlagen in Betrieb. Damit und mit der naturbelassenen Auwildnis auf dem Grundstück, die zahlreichen Tierarten ein Rückzugsgebiet ist, kann sich der Eigentümer EVN rühmen, nicht nur einen weltweit einzigartigen Ort zu besitzen, sondern darüber hinaus ein potenziell gefährliches Nuklearkraftwerk in ein ökologisches Großprojekt umgewandelt zu haben.